Moderne Organisationsentwicklung - Trend oder doch mehr?

Wenn "Alles-auf-Schiene" keinen Wettbewerbsvorteil mehr bietet.

Linzer Worte  |  30. Oktober 2023

Moderne Organisationsentwicklung – Trend oder doch mehr?

Geschrieben von Alexander Jungwirth

Einleitung

Welchem Unternehmen nutzt moderne Organisationsentwicklung? Warum ist diese moderne Organisationsentwicklung nicht etwas Besseres als das Etablierte, sondern was ganz anderes? Warum lassen sich einige der aktuellen Problemstellungen mit den gängigen Methoden nicht lösen?  Diesen Fragen gehe ich nach und versuche sie mit meinem aktuellen Wissensstand zu beantworten, der in diesem Fall seinen Ursprung im Institut für dynamikrobuste Organisation von Dr. Gerhard Wohland hat.

Moderne Organisationsentwicklung unterscheidet sich von den etablierten Vorgehensweisen fundamental. Dies bedarf auch einer eigenen Sprache, obwohl die gleichen Wörter verwendet werden.

 In diesem Artikel gehe ich dieser Unterscheidung ein wenig auf den Grund. Es wird eine Provokation und für Einsteiger in dieses Thema kann es mitunter schwer verdaulich sein. 

Das Ende am Anfang.

Moderne Organisationsentwicklung beschäftigt sich mit modernen Problemstellungen die für die etablierten Organisationsentwicklungsmethoden verborgen bleiben. Es sind keine Fragen nach „guten und richtigen“ Verhaltensweisen, Mindset, Vorbild, Methoden, Regeln, Manager und Vorgesetzten, sondern Fragen zu den Verhältnissen zwischen Unternehmen und Markt, und welche Rolle die Mitglieder des Unternehmens dabei einnehmen. 

Was sind moderne Probleme?

Es gibt Problemstellungen, die entstehen als Reaktion auf die steigende Marktdynamik. Nur diese sind als moderne Probleme zu betrachten. Sie sind nicht die Folge einer Entscheidung des eigenen Managements, sondern haben ihren Ursprung außerhalb des Unternehmens. Sie sind da, man kann sie sich nicht aussuchen. 

“Es handelt sich um die Anzahl der Überraschungen (Innovation), die ein Unternehmen aushalten oder erzeugen muss, um überleben zu können. Nur diese sogenannten nicht ignorierbaren Reize von außen erzeugen moderne Probleme.” (Wohland 2012)

Alles andere sind bekannte Problemstellungen, wie Prozessmanagement und Wissensmanagement, welche sich mit den etablierten Organisationsentwicklungs-Methoden erfolgreich behandeln lassen.

Woher stammen diese modernen Probleme?

Der Raum, in dem Wirtschaft stattfinden kann, ist planetar begrenzt. Diese Begrenzung erzeugt ab einer gewissen Anzahl von Marktteilnehmern eine Enge. Diese Enge erzeugt Dynamik. Die Komplexität steigt dabei unglaublich rasant. Diese planetare Grenze wurde für die Wirtschaftsorganisationen rund um 1980 erstmals spürbar. Bis dahin war der Wirtschaftsraum groß. Man konnte sich aus dem Weg gehen. Diese Enge des Wirtschaftsraums war vor 1980 nicht wirklich bemerkbar. Die flächenmäßige Globalisierung war noch nicht so weit fortgeschritten wie heute.

Aktuell sieht es ganz anders aus. Wenn ein Unternehmen mit einer Innovation auf den Markt geht, merkt es ganz schnell, dass es eng ist. Es gibt nur ganz wenige Orte auf den Planeten, wo man hingehen und damit rechnen kann, in Ruhe und ohne Konkurrenz Geschäfte zu machen. Meist sind die Konkurrenten schon da und überraschen einen. Das erzeugt moderne Probleme.

Wie reagieren die Unternehmen darauf?

Jedes Unternehmen, das am Markt erfolgreich ist, hat bereits Strukturen für diese modernen Probleme entwickelt. Genauer gesagt sind es die Strukturen an der Peripherie, die darauf sofort reagieren, nicht das Management im Zentrum. Die Peripherie ist der Bereich, wo das Unternehmen seinen Kontakt zum Markt hat. Es ist der Ort, wo die Marktdynamik ungefiltert auf die Mitarbeiter trifft.

Wie diese Strukturen ausgebildet sind, hängt von den Problemstellungen und den informellen und formellen Regeln der Organisation ab.

Nicht jedes Unternehmen reagiert gleich darauf. Doch bei einem klassischen Tayloristen (zentrumsgesteuerte Organisation), und das ist die vorherrschende Organisationsform, für welche die etablierten Organisationsentwicklungsmethoden erfunden wurden, bilden sich diese Strukturen im Verborgenen aus. In der Organisations-Soziologie spricht man von brauchbarer Illegalität. (Kühl 2020) Brauchbar im Sinne der Wertschöpfung und illegal im Sinne der Unternehmensregeln – nicht vom Gesetz. In manchen Unternehmen bilden sich sogar Illegalen Höchstleistungsinseln aus, um den Laden am Laufen zu halten.

Was an diesem Punkt wichtig ist. Ein Unternehmen ist bereits an die veränderte Umgebung angepasst. Egal welche Organisationsform sie hat. 

Die veränderte Umgebung ist eine Folge des Anstiegs der Marktdynamik. 

Alles, was ein Unternehmen braucht, um zu überleben, hat sich bereits strukturell entwickelt. Die Organisation macht es bereits, nur die wenigsten Verantwortlichen haben das verstanden, was das System schon kann. Denn was dabei zu beobachten ist, sieht für das ungeschulte Auge von der Ferne immer wie Chaos aus. Auf Chaos reagiert man mit Ordnung. Doch was passiert, wenn man mit Ordnung auf Dynamik reagiert? 

Wie reagiert die etablierte Organisationsentwicklung darauf?

Die etablierte Organisationsentwicklung unterscheidet nicht zwischen Chaos (innere Unordnung) und Dynamik (Reaktion auf äußere Umweltveränderungen). Die Reaktion auf Dynamik wird daher als Defizit in der Ordnung gesehen und mit Prozessen, Vorschriften, Anweisungen und Regeln behandelt. Sie liefert kausale Antworten für komplexe Problemstellungen.

Das, was die etablierte Organisationsentwicklung als defizitär bezeichnet, ist für die moderne Organisationsentwicklung kein Defizit, sondern bereits die Antwort auf nicht passende Strukturen und Rahmenbedingungen. 

Wenn man das nicht erkennt, tappt man in die Falle. Oder so wie ich es gerne bezeichne: Die Taylor-Falle. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Unterscheidung zwischen etablierter und moderner Organisationsentwicklung ist von Bedeutung. Denn viele Organisationsberater, die sich modern bezeichnen, folgen nach wie vor der klassischen Methoden-Logik. Sie betrachten weiterhin die bereits angepasste Organisation als defizitär – als reparaturbedürftig.

Das liegt daran, dass sie nicht zwischen klassischen und modernen Problemen unterscheiden können und somit alle Probleme mit den klassischen Methoden behandeln. In vielen Fällen werden die Reaktionen auf moderne Problemstellungen sogar als Defizite in Menschen dargestellt. Plakativ steht dafür die Adressierung von Problemursachen ans falsche Mindset.

Wie reagiert die moderne Organisationsentwicklung darauf?

Moderne Organisationsentwicklung zeichnet sich dadurch aus, der Organisation in seiner schon existierenden Angepasstheit, auf die Schliche zu kommen.“  (Wohland 2019)

Wie oben bereits beschrieben, sind Unternehmen, die sich auf einem dynamischen Markt durchsetzen, an ihre Umgebung bereits angepasst. Wie es ein Unternehmen löst, ist eine andere Frage, aber die Organisation macht das schon. Diese Lösungen für moderne Probleme können mitunter zu unpassenden Verhaltensmustern führen. Dies wird von der klassischen Beratung als zu wenig Organisation in der Organisation gesehen. Es fehlt was und es muss geholfen werden. Das Fehlende muss eingebaut werden. Sei es ein Prozess, eine neue Methode, ein passendes Mindset, ein Mitarbeiterzufriedenheitsprogramm, ein Digitalisierungsprojekt, usw.

Moderne Organisationsentwicklung versucht diese Angepasstheit und die dahinter liegenden Verhältnisse zu verstehen. 

Den Einstieg dazu kann man mit folgenden Fragen wagen. 

  • Wie kann ein konservatives Unternehmen auf einem dynamischen Markt überleben, wenn alle Prozesse und Strukturen dagegen sprechen?
  • Welche Funktionen haben sich hinter dem Rücken des Managements ausgebildet und halten den Laden am Laufen?
  • Welche komplexitätsreduzierenden Regeln und Prozesse kann ich weglassen, damit moderne Probleme ihrer Natur entsprechend und formal legitimiert behandelt werden können?

Es ist eine gänzlich andere Disziplin, wenn das Management mittels Methodenwissen Dynamik (Komplexität) aus der Organisation entfernt, als Entscheidungen zu treffen, welche die Dynamik im Unternehmen anhebt. 

Das Management muss von der Organisation lernen, wenn sie die Reaktionen auf die Marktdynamik verstehen und unterstützen will. Die Kausalität dreht sich um. Moderne Organisationsentwicklung versteht diese umgekehrte Kausalität, kann sie beobachten und findet diese Orte, wo sie bereits angewendet wird.

Man könnte auch sagen, das Management wird vom Lehrer zum Forscher.

Wie erkenne ich moderne Organisationsentwicklung?

Moderne Organisationsentwicklung beginnt zu wirken, wenn die Regelabweichungen der Hinterbühne auf der Vorderbühne besprechbar werden. Das bedeutet, man kann mit den Betroffenen darüber sprechen – mit Personen, die brauchbare Illegalität betreiben müssen. Brauchbar im Sinne der Wertschöpfung und illegal im Sinne der Organisationsregelungen. Nicht zu verwechseln mit der eigennützigen Illegalität, die nur dem Individuum dient. 

Die Betroffenen sprechen deshalb darüber, weil sie wissen, dass sie weder angeklagt, diszipliniert noch gerügt werden. Weil sie erkennen, dass das Management sie nicht mehr als Problem, sondern als Lösung versteht.

Es sind andere Entscheidungen, die vom Management getroffen werden. Entscheidungen, die auf Basis von Unterscheidungen getroffen werden und nicht auf Basis von Regeln. 

Erst dann können die betroffenen Personen ihre Intelligenz zusammenwirken lassen und ein neues Kommunikationssystem entsteht. Eines, das die dahinterliegenden Probleme besprechbar macht. Und ab diesem Zeitpunkt ist es nicht mehr ignorierbar. Denn wer so weit gekommen ist, will es nicht ignorieren, er will es verstehen. Und dafür sorgen, also Rahmenbedingungen verändern, damit die modernen Probleme formal legitimiert gelöst werden können.

Das versteckte Gemurkse verschwindet. Was problem-bedingt bleibt, darf sich mit der Unterstützung der Organisation weiterentwickeln.

 

Eine kleine Orientierungshilfe für die, die es gerne kurz und knapp haben wollen.

modern

etabliert

Mensch als Umwelt der Organisation

Mensch als Teil der Organisation

Beobachtet die Verhältnisse

Beobachtet das Verhalten

Organisation als lebendiges System, das aufgrund von Kommunikation existiert

Organisation als Machtkonstrukt und Ansammlung von Prozessen

Erklärt über die Verhältnisse das Verhalten

Erklärt über die Persönlichkeit das Verhalten und somit die Verhältnisse

Organisation ist an die Umwelt angepasst

Organisation hat Defizite

Unterscheidet bei Unordnung zwischen Chaos und Dynamik

Sieht Unordnung stets als Chaos aufgrund von nicht passenden Verhalten

Beschreibt die Organisation über die Probleme aus der Lernumgebung (Umgebung)

Beschreibt die Probleme einer Organisation über fehlende Steuerung oder fehlende Menschlichkeit

Unterscheidet zwischen eigennützigen und brauchbaren Verhaltensabweichungen

Sieht Verhaltensabweichungen als Ursache für Probleme

Agilität ist bereits vorhanden und wird von dysfunktionalen Strukturen unterdrückt

Agilität ist etwas, was fehlt und durch Maßnahmen bei Menschen erweckt wird.

Ersetzt bei dynamischen Problemen Prozesse durch Projekte. 

Dynamische Probleme werden mit neuen Prozessen behandelt. 

 

Nachsatz:

Klassische Organisationsentwicklung ist nach wie vor sehr erfolgreich und sie bleibt auch erfolgreich, solange die Konkurrenz dasselbe macht. Spannend wird es, wenn bei einem Konkurrenten das Licht aufgeht, der sogenannte Groschen fällt, und dieser auf moderne Organisationsentwicklung umschwenkt. Aber ich mag mich auch irren und die Welt sieht ganz anders aus. 

 

Vielen Dank fürs Lesen, euer Alex

 

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Autor: Alexander Jungwirth 
Co-Autor / Lektor: Ralf Haase

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Literatur:

(Wohland 2012) Denkwerkzeuge der Höchstleister: Warum dynamikrobuste Unternehmen Marktdruck erzeugen Gebundene Ausgabe – 20. Oktober 2012; ISBN-13  978-3934900110

(Kühl 2020) Brauchbare Illegalität: Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen Broschiert – 16. September 2020; ISBN-13  978-3593513010

(Wohland 2019) https://www.youtube.com/watch?v=iO-0inD8vaI&list=PL4njvLoVEKgbNDJ2yTu6v3vux48L4Leph&index=6

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